Allison Scagliotti

Claudia stöhnte leise. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte man ihn mit bloßen Händen zermatscht. Sie hatte mal im Internet ein Video gesehen, wie ein paar Typen Gummibänder um eine Melone Gespannt haben, bis das ganze Ding explodiert war. Genauso fühlte sie sich! Dazu war ihr schwindelig. Übelkeit des Todes! Es wurde auch nicht besser als sie die Augen öffnete. Für einen kurzen Augenblick war alles so hell, als würde sie direkt in eine Taschenlampe starren. Nur langsam stellte sich das Bild scharf und der Nebel aus ihrem Kopf verzog sich langsam aber sicher. Ihre Hand lag auf ihrer Stirn als sie den Blick vorsichtig hob. Sie lag am Absatz der Treppe...was zum Teufel machte sie da? Zum Schlafen hätte sie sich bessere Orte suchen können. Stufe für Stufe glitten ihre Augen nach oben bis sie am oberen Absatz jemanden sehen konnte. Nicht nur jemanden! Stewart! Quasi auf der Stelle schossen ihr die Bilder der letzten Minuten durch die Schädeldecke. Stewart hat wieder Ärger gemacht und wollte sich im Keller verstecken. Das wollte sie nicht, also hatte sie ihn raus geworfen. Natürlich hatte er direkt wieder angefangen handgreiflich zu werden. Aber das er sie die Treppe runter schubsen würde? Ohh..darum lag sie also hier unten! Verstanden..
Claudias Gesicht verzog sich zu einer wütenden Maske als sie in das ihres Bruder blickte, der nur völlig schockiert auf sie herunter starrte.
"Du hast mich die Treppe runtergeschubst?! Ist das dein Ernst?", fragte sie ihn bissig und versuchte sich ganz langsam auf die Beine zu hieven. Das Treppengeländer half ihr dabei. Fluchend strich sie sich über den Nacken und streckte einmal den Rücken durch. Dank ihm würde sie wieder aussehen wie ein Schlumpf. Langsam sollte sie sich echt an die blauen Flecke gewöhnt haben. Dachte Stewart ja anscheinend.
Noch immer stand ihr Bruder am oberen Treppenabsatz glotzte sie mit großen Augen an. Claudia stierte zurück.
"DU hast mich die VERFLUCHTE TREPPE RUNTERGESCHUBST! Du hättest mich fast umgebracht! WIE WEIT WILLST DU EIGENTLICH NOCH GEHEN?!" Ihr eigener Schrei hallte in ihren Ohren wieder, als stünde sie in einem riesigen Konzertsaal. Allmählich hatte sie wirklich genug von seinen Spielchen. Sie wollte nicht mehr ständig zum Arzt rennen und sich neue dummen Ausreden einfallen lassen, warum sie schon wieder aussah wie vom Bus überrollt. Wobei das echt egal war. Jeder in ihrem beschissenen Dorf wusste was Sache war, aber keiner traute sich noch mehr Probleme nach Wexford zu bringen. Alle guckten weg! Jetzt war es aber Claudia echt genug.
Langsam aber sicher schleppte sie sich die Treppe hoch. Noch immer hatte sich ihr Bruder nicht bewegt oder etwas gesagt. Gut, sie war nämlich dran.
"Ich habe es so satt, dass du Dad ausbeutest und mich für Mums Tod verantwortlich machst. Ich war zwei. ZWEI! Ich konnte nichts dafür! Genauso wenig wie du oder Dad oder sonst wer. Es war ein Unfall! Beschissenes Timing!"
Wieder ging sie zwei Stufen hoch. Die ganze Zeit hielt sie sich am Geländer fest, damit sie nicht noch mal einen Sittich nach unten machte. Ihr war immer noch etwas komisch.
"Du bist echt zu weit gegangen! Ich hätte drauf gehen können, Stewart! Willst du eigentlich auch mal was sagen, oder nur glotzen? Hallo!!! Stewart ich rede mit dir.
Ihr nächster Schrei versackte irgendwo zwischen den wenigen Schritten, die Claudia von ihrem Bruder trennte, als dieser plötzlich auf sie zu kam. Schnell! Zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Sofort rutschte Claudia wieder das Herz in die Hose und hielt erschrocken die Luft an, als sie jeden Moment mit einem neuen Schlag oder Stoß rechnete, aber nichts davon passierte. Er kam einfach nur immer weiter auf sie zu, mit purem Entsetzen in den Augen und stoppte auch nicht.
"Nein nein nein nein Stewart stopp du rennst mich..." Weiter kam sie nicht, denn Stewart war schon zu nah und zu schnell um sich zu bremsen. Sie würden kollidieren und sie wieder hochkantig nach unten fliegen. Aber das passierte nicht. In dem Moment als die beiden sich eigentlich berühren sollte, ging Stewart einfach durch sie hindurch, als wäre sie nichts weiter als Rauch. Luft, die man nicht greifen konnte.
Dieses Mal war sie es die entsetzt drein schaute.
"Was zur..."
Ruckartig drehte Claudia sich um und starrte direkt, auf sich selbst.
Tausend Bilder flatterten vor ihrem inneren Auge herum und ließen sie gar nicht richtig nachdenken. Stumm stand sie mitten auf der Treppe und starrte nun in die gleiche Richtung, in die Stewart gerade geschaut hatte. Sie sah sich selbst! Ihr Gesicht, ihre schwarze Weste mit den Buttons und die schwarze Röhrenjeans. Ihr Lieblingsstück. Das war sie! Definitiv sie! Aber das konnte sie nicht sein. Sie stand doch hier! Wie sollte sie das sonst alles sehen? Wie fest hatte sie sich bitte den Kopf gestoßen? Sie träumte oder? Sie...sie musste träumen..
Durch den dichten Schleier in ihrem Kopf hörte sie eine weinerliche Stimme schluchzen und fluchen. Die Stimme kam von ihrem Bruder der unten im Flur vor ihrer...ihrer...Leiche stand und panisch auf und ab ging.
Er hatte nicht sie angestarrt! Also nicht direkt...
Darum hatte Stewart vorhin nicht auf sie reagiert! Er hatte sie nicht gehört weil..weil sie...
Claudias Schritte führten sie fast schon träge und zäh zurück nach unten. Ohne den Blick von ihrem eigenen Gesicht abzuwenden, lief sie die Stufen hinunter und das kurze Stück bis zu ihrem Bruder. Erst jetzt fiel ihr die große Blutlache auf, die sich ganz langsam unter ihrem Kopf ausbreitete wie ein dunkler See.
Automatisch ging ihre Hand zu ihrem Hinterkopf hoch, aber sie spürte nichts. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie sich überhaupt anfasste.
"Du hast mich getötet..", hauchte sie leise und mit brüchiger Stimme. "Du hast mich getötet! Stewart, du hast mich getötet. Getötet hast du mich!", wiederholte sie wieder und wieder und wurde mit jeder Silbe immer lauter. Als sie schon anfing zu schreien, hatte sie sich bereist zu ihrem Bruder umgedreht und versuchte auf ihn einzuprügeln. Mit den Fäusten schlug sie auf ihn ein, erwischte ihn aber nicht. Wie schon auf der Treppe, schien sie nur nichtiger Nebel zu sein und Nebel konnte bekanntlich nicht schlagen.
Claudia schlug und schrie sich in Rage. Tränen bildeten sich in ihren Augen und liefen an ihrem Kinn zusammen. Sie war tot! TOT TOT TOT TOT TOT...
Und sie konnte nichts dagegen machen, als sich unhörbar zu beklagen. Sie konnte nicht mal auf Stewart einprügeln, aber das hielt sie nicht davon ab es zu versuchen und zu versuchen und zu versuchen..
Sie merkte nicht mal, wie alles um sie herum langsam zu einer weißen Masse verschmolz, bis sie nicht mehr in ihrem Haus stand. Nicht mehr auf Stewart einprügelte und sie auch nicht mehr vor ihren eigenen Füßen, blutend auf dem Boden lag. Sie war einfach weg! Und allein!
Und tot...